Amtsblatt der Stadt Steyr 1985/5

Liebe Leser, In den letzten Tagen wurde in vielen Städten und Orten unserer Republik der 40. Wiederkehr des Jahrestages der Be- freiung Österreichs von der NS-Herr- schaft in zahlreichen festlichen Veran- staltungen gedacht. Auch der Gemein- derat der Stadt Steyr hat am 29. April dieses Jahres im Rahmen einer schlich- ten Festsitzung sich dieser Ereignisse erinnert. Darüber wird an anderer Stelle des Amtsblattes berichtet. Viele Öster- reicher werden sich in diesen Tagen an die persönlichen Erlebnisse aus diesen Tagen erinnern. Wenn diese nunmehr auch schon vierzig Jahre zurückliegen, waren diese Eindrücke so intensiv, daß sie jeden, der diese Zeit schon bewußt erlebt hat, ein Leben lang begleiten wer- den. Die Zeit des Krieges, der politi- schen Bevormundung und in vielen Fäl- len der persönlichen Verfolgung war zu Ende und die Menschen konnten wieder ohne Angst um das Leben ihre Meinung frei äußern. Erlauben Sie mir, daß ich an dieser Stel- le ausnahmsweise einmal nicht auf ge- genwärtige kommunale Probleme ein- gehe, sondern aus dem persönlichen Erleben aus der heutigen Sicht berichte. Die letzten Monate des Krieges ver- brachte ich, wie die meisten meiner Al- tersgenossen, im Elternhaus. Die Schu- len in Steyr waren im Spätherbst 1944 geschlossen worden und dienten als Notquartiere für die zahllosen Flüchtlin- ge, welche der Krieg, vornehmlich aus dem Osten, ,n unsere Gegend verschla- gen hatte. Täglich hörten wir aus den Radiomeldungen vom Näherrücken der Fronten, und voll Ungewißheit blickte je- dermann in die Zukunft, voll Angst, daß der Krieg noch in voller Härte über die Stadt hinwegziehen könnte. Das Ende des Krieges war für mich per- sönlich weitaus weniger dramatisch. Am 5. Mai 1945, ich war gerade auf dem Weg zum Stadtplatz, hatte ich meinen ersten Kontakt mit den amerikanischen Truppen. Am rechten Brückenkopf der Neutorbrücke stand ein amerikanischer Panzer und andere Armeefahrzeuge. Die Seite des Bürgermeisters \ ( Die Soldaten in ihren fremden Unifor- men nahmen jedoch keine Notiz von mir. Nach einigen Tagen amerikanischer Besetzung trat eine einschneidende Wendung ein . Die Amerikaner zogen sich aufgrund einer Vereinbarung der Alliierten auf das linke Ennsufer zurück, und der Osten der Stadt, in dem ich mit meinen Eltern in der Neuschönau wohn- te, wurde von der Roten Armee besetzt. Plötzlich waren alle Brücken über die Enns einschließlich der Eisenbahnbrük- ke in Garsten hermetisch geschlossen. Wir konnten damals nicht verstehen, daß sich Waffenbrüder so voneinander abkapselten. Später ist uns erst bewußt geworden, daß es schon in den ersten Nachkriegsjahren um eine strenge Ab- grenzung der lnteressens- und Einfluß- sphären ging. Die Zustände in den ersten Wochen nach Kriegsende waren chaotisch. Zu- rückflutende deutsche und ungarische Truppenverbände blieben auf ihrem Rückzug nach Westen an den Ufern der Enns stecken, und viele Häuser und Wohnungen wurden als provisorische Unterkünfte für die ehemaligen Soldaten zur Verfügung gestellt. Auch die Besat- zungstruppen nahmen Wohnraum für sich in Anspruch, so daß ein fürchterli- ches Gedränge herrschte. Dazu gab es besonders im Osten der Stadt keine Le- bensmittelvorräte, man war darauf an- gewiesen, sich selbst zu behelfen. Bald hatten wir das „ Organisieren " perfekt erlernt. Man bildete anfangs Selbsthilfe- gruppen, die sich in Zusammenarbeit mit den Bauern aus dem Umland be- mühten, das Allernotwendigste aufzu- treiben. Ich erinnere mich noch, daß sich an der Eisenstraße - in der soge- nannten Freising - eine ungarische Ka- vallerieeinheit unter Zurücklassung ihrer Pferde und des Gerätes aufgelöst hatte. Die herrenlos herumirrenden Tiere wur- den eingefangen und geschlachtet und bildeten eine Zeitlang die Grundlage für die Fleischversorgung. An der Demarkationslinie kam es oft zu dramatischen und tragischen Vorfällen. Viele der auf einem oft weiten Heimweg befindlichen Soldaten versuchten, die Gefahren nicht achtend, die Enns schwimmend zu überqueren, und nicht selten endeten diese Versuche tragisch. Ich habe damals als Dreizehnjähriger diese Zeit schon sehr bewußt miterlebt. Das für mein Leben weitgehend bestim- mende Erlebnis war für mich der Le- bensmut und der Optimismus unserer Elterngeneration, mit dem sie an das neu erstandene Österreich glaubte. Die Solidarität der Menschen und ihre ge- genseitige Hilfsbereitschaft hat mich tief beeindruckt. Heute glaube ich, daß dar- in schon der Ursprung für den späteren beispielhaften Wiederaufbau Öster- reichs lag. Die Menschen hatten nach Jahren der Unterdrückung gelernt, das Gemeinsame über alles politisch Tren - nende zu stellen. Gedenken wir gemeinsam in diesen Ta- gen der Männer und Frauen der ersten Stunde und danken wir ihnen für ihre Leistungen zum Wohle unseres Landes und aller Menschen, die in ihm leben . In diesem Sinne verbleibe ich Ihr Heinrich Schwarz

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