Amtsblatt der Stadt Steyr 1985/5

Festsitzung des Gemeinderates anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der 2. Republik Der Gemeinderat der Stadt Steyr hielt am Montag, dem 29. April 1985, zum Gedenken an den 40. Jahrestag der Grün- dung der 2. Republik und den Abschluß des österreichischen Staatsvertrages vor 30 Jahren eine Festsitzung ab. In der Feier- stunde, welche vom Bläserquartett Hiebl musikalisch umrahmt wurde, führte Bür- germeister Heinrich Schwarz in seiner Festrede folgendes aus: „Vor fast genau 40 Jahren, am 27. April des Jahres 1945, erklärte die erste proviso- rische österreichische Bundesregierung unter Dr. Karl Renner den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich für ,null und nichtig' und gleichzeitig damit wurde das Wiedererstehen der Republik Österreich proklamiert. Vor 30 Jahren, am 15. Mai 1955, wurde schließlich der öster- reichische Staatsvertrag unterzeichnet, der unserem Land die endgültige Unabhän- gigkeit ·brachte und gleichzeitig den Neu- tralitätsstatus des Landes begründete. Vier Dezennien sind seither ins Land gezogen, gewaltige A1;1_tbauleistungen wur- den vollbracht und Osterreich hat einen geachteten Platz in der Welt errungen. Di e Erinnerung an jene schweren Stunden verblassen immer mehr und sind nur mehr in der Erinnerung der älteren Generation lebendig. Es erscheint mir daher in ein er Zeit, wo da und dort in Diskuss ionen Gedanken vorgebracht wurden , ob Öster- reich befreit oder besiegt wurd e, notwen- dig, sich der Ereignisse zu erinnern und jener Männer und Frauen zu gedenken , die damals entschlossen und vo ll Optimis- mus das Geschi ck des La nd es in ihre Hände nahmen . An jenem 27. April 1945, als di e Ge- burtsstunde der 2. Republik schlug, herrschte in Steyr noch der Kri eg. Als man in Wien bereits di e rot-we iß-rote Fahne aufgezogen hatte, hi elt der damalige Gau - leiter von ,Oberdonau', der Stey rer Eigru - ber, vom Schloß Lamberg aus über den Rundfunk seine letzte Durchhalterede, ehe er es vorzog, weiter in das Ennstal zu flüchten . In den letzten Kriegs tagen wurde nach längerem Hin und Her schließlich beschlossen, die Stadt nicht zu verteidigen und die an den Brücken angebrachten Sprengsätze in Form von Fliegerbomben zu entfernen. Am 5. Mai erreichten die ersten amerikanischen Truppen die Stadt und besetzten diese nach der Übergabe durch den NS-Oberbürgermeister Johann Ramsmayr. Am 8. Mai trafen die ersten Vorausabteilungen d~_r Roten Armee in der Stadt ein. Einern Ubereinkommen der Alliierten gemäß zogen sich die Amerika- ner auf das linke Ennsufer zurück und die Enns wurde zur Demarkationslinie erklärt. Die Brücken über die Enns wurden her- metisch geschlossen und damit die Stadt in zwei Teile geteilt. Jegliche Kommunika- tion war unterbunden, und an den Ufern der Enns stauten sich kurzfristig über 100.000 Menschen. Diese Situation dauer- te bis zum 28. Juli, bis nach längeren Verhandlungen die Demarkationslinie an 10/ 146 die Landesgrenze mit Niederösterreich verlegt wurde und die Stadt Steyr zur Gänze der amerikanischen Besatzungszo- ne zufiel. Das Buch ,Steyr baut auf' , welches die Stadtverwaltung im Jahre 1955 als ein- drucksvollen Leistungsbericht über den Wiederaufbau herausgab, schildert die Situation zu Kriegsende folgendermaßen: ,Als am 5. Mai 1945 amerikanische Truppen nach sieben bitteren Jahren in Steyr einzogen, bot diese Stadt, wie viele Orte unserer Heimat, ein Abbild der ver- gangenen Zeitepoche : Zerstörung großen Ausmaßes allenthalben durch vier Luftan- griffe, Tausende schutzsuchender, ge- ängstigter, hungriger Heimatvertriebener, Fremdarbeiter, rückflutende Soldaten in den Straßen , zerstörte und geplünderte Gewerbebetriebe anstelle einstigen Wohl- standes und monatelange Zerreißung ei- nes einheitlichen Ganzen durch Zweitei- lung der Stadt in verschiedene Besatzungs- zonen.' Unter di esen äußeren Bedingungen fan- den sich in Steyr wie überall im Lande die ,Männer der ersten Stunde', wie wir sie heute gerne nennen, mit dem entschlosse- nen Willen, die demokratische Ordnung wiederherzustellen . Sie kamen aus jenen politischen Lagern, die sich in der Zwi- schenkriegszeit fast feindlich gegenüber ges tanden hatten. Sie kamen aus den Ge- mngnissen, als die wenigen überlebenden der Konzentrationslager, aus der Emigra- tion , aus der Kriegsdienstverpflichtung und gründeten auch im lokalen Bereich ihre politischen Parteien und Organisatio- nen, die sich bereits im April im befreiten Wien konstituiert hatten. Es ist ihr großes Verdienst, geläutert durch gemeinsames Leid in den Jahren des NS-Regimes, eine neue Form des demokratischen Zusam- menlebens, einen neuen Weg gefunden zu haben, der als ,österreichischer Weg' in die Geschichte eingegangen ist. Bereits am 5. Mai, am Tage des Einmar- sches der Amerikaner, trafen sich im Rat- haus Vertreter der demokratischen Partei- en der Vorkriegszeit und setzten mit Ein- verständnis der Besatzungsmacht den So- zialisten Franz Prokesch als provisorischen Bürgermeister bis zur Abhaltung von Wahlen ein. Sein Stellvertreter wurde Fer- dinand Knabl, ein Angehöriger der neuge- gründeten Österreichischen Volkspartei . Im Ostteil der Stadt wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee mit deren Einverständnis der Kommunist Johann Kahlig zum provisorischen Bürgermeister bestellt und eine provisorische Stadtver- waltung eingerichtet. In beiden Teilen der Stadt bot sich das gleiche Bild, stand man vor den gleichen Problemen. Vier Bombenangriffe, die schwersten am 24. Februar und am 2. April 1944, hatten der Stadt schwere Wunden zugefügt. Das Hauptwerk der Steyr-Daimler-Puch AG war zu großen Teilen zerstört, das Wälzla- gerwerk lag in Trümmern, der ohnehin knappe Wohnraum war teilweise verwü- stet oder von der Besatzungsmacht be- schlagnahmt, wertvolle Kulturdenkmäler waren für alle Zeiten verloren. Mehr als 1000 Sprengbomben und Tausende Brandbomben hatten ganze Arbeit gelei- stet. 112 Gebäude waren total zerstört, 28 wiesen schwere, 43 mittlere und 138 leich- te Schäden auf. Zuerst galt es die Trüm- mer des Krieges, etwa 40.000 Kubikmeter Schutt - diese Menge entspricht 29 Last- zügen mit je 50 vollbeladenen Waggons - zu beseitigen. Dabei fehlte es überall an den nötigsten Dingen des Alltages, vor allem aber an Lebensmitteln. In Steyr West wurde im Mai 1945 pro Person folgende Wochenra- tion ausgegeben : 500 g Brot, 200 g Mehl, 100 g Fett, 200 g Fleisch, 125 g Zucker, 75 g Trockenerbsen, 25 g Kaffeemittel und ein Ei . Diese Zuteilung hatte einen Wert von 3280 Kalorien , eine Menge, die man heute einem Arbeiter täglich zumißt. Un- ter diesen Voraussetzungen gingen die Verantwortlichen daran, das Leben in mühseliger Kleinarbeit zu normalisieren und der Stadt wieder ein ansehnliches Aussehen zu geben. Der Chronist hat es heute nicht leicht, ein Bild dieser ersten Nachkriegsmonate nachzuzeichnen, da nur spärliche Unterla- gen zur Verfügung stehen. Nach der Wie- dervereinigung der beiden Teile der Stadt traten verschiedene personelJe Verände- rungen in der Gemeindevertretung ein, und erst am 14. September wurde von der amerikanischen Besatzungsmacht ein Ge- meinderat eingesetzt, der nach ihrer Mei- nung das politische Kräfteverhältnis wi- derspiegeln sollte. Seine Zusammenset- zung soll hier in Erinnerung gerufen wer- den . Unter Bürgermeister Franz Prokesch gehörten diesem Gemeinderat 35 Mitglie- der an, die sich folgendermaßen aufteil- ten : 13 Vertreter der KPÖ, 11 der ÖVP und 11 der SPÖ. Wir finden unter ihnen bei- spielsweise bereits die Namen der späteren Bürgermeister Ing. Steinbrecher und Fel- linger sowie jene der Vizebürgermeister Franz Paulmayr und Gottfried Koller. Am 25 . November 1945 fanden die ersten Landtagswahlen statt. Aufgrund einer In- tervention der oö. Landesregierung wur- den die Gemeinderäte nach dem Ergebnis dieser Wahlen konstituiert. Damit trat eine wesentliche Veränderung ein. Unter dem Bürgermeister Ing. Leopold Steinbre- cher und seinen Stellvertretern Gottfried Koller und Franz PaulmaY.r saßen ~un- mehr 20 Mitglieder der SPO, 12 der OVP und 4 der KPÖ in der Gemeindestube. Ihr ganzes Bemühen wäre jedoch ver- geblich gewesen, hätte es nicht den Le- bensmut der Bevölkerung der Stadt und den Arbeitswillen der Steyrer Arbeiter gegeben. Man muß sich ihre Situation vergegenwärtigen . Die Steyr-Werke waren zerbombt, die Arbeiter vorerst von iprer Arbeitsstätte abgeschnitten. Trotz Hunger stt-yr

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